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Citizen Science Zürich

  • Ein 30-köpfiges Gremium aus Betroffenen von Long Covid oder Chronischem Müdigkeitssyndrom hat gemeinsam die Forschungsprioritäten definiert.

Forschen mit und für Betroffene

Das Seed Grant-Projekt «Long Covid Citizen Science Board» bezog Menschen mit Long Covid direkt in die Forschung mit ein. Sie diskutierten mit, tauschten sich aus und bewerteten, wie die Forschung ihre Bedürfnisse besser abdecken kann. Zu diesem Zweck wurden ein Gremium und eine Arbeitsgruppe gebildet. Wir haben mit Chantal Britt und Milo Puhan über das Projekt gesprochen und beleuchten dieses aus zwei Perspektiven – derjenigen einer Bürgerwissenschaftlerin und von Long Covid-Betroffenen, und derjenigen eines akademischen Forschers.

Mit Covid-19 kam auch Long Covid. Untersuchungen zeigten, dass bei etwa einem von fünf Erwachsenen noch Monate nach der ersten Infektion mit dem Coronavirus anhaltende Symptome auftreten können.1 Personen mit Long Covid haben verschiedene gesundheitliche Probleme und Ärzt*innen wissen oft nicht, was ihre Patient*innen am dringendsten brauchen. Hier setzte das Projekt an.

 

Ursina Roffler: Frau Britt, Herr Puhan, können Sie uns kurz erläutern, um was es im Seed Grant-Projekt «Long Covid Citizen Science Board» genau ging? Wie ist die Projektidee entstanden? Und was war Ihre jeweilige Rolle im Projekt?

Chantal Britt: In dem Projekt ging es darum, dass Forschende und Patient*innen gemeinsam die relevantesten Themen und Forschungsprioritäten der Betroffenen bestimmten. Die Idee entstand, als wir uns darüber austauschten, dass es hilfreich wäre, eine Methode zu entwickeln, mit der die Bedürfnisse von Patient*innen mit einer neueren Erkrankung systematisch erfasst werden könnten. Damit könnte man bei der Forschung bei den entscheidenden Themen ansetzen und investieren, und damit die wichtigen und richtigen Fragen beantworten. Post-infektiöse Erkrankungen wurden bis anhin nur schlecht erforscht, weshalb Prioritäten gesetzt werden müssen. Für die Citizen Scientists ging es um Empowerment. Wir wollten etwas verändern, einen Impact haben und unsere Situation verbessern. Ich war Co-Applicant und offiziell die Vertreterin der Betroffenen im Projektteam. Dadurch trug ich in gewisser Weise immer zwei Hüte und vermittelte zwischen den Patient*innen und Forschenden.

Milo Puhan: Meist werden Forschungsprioritäten ausschliesslich von Expert*innen bestimmt, teils mit wenigstens einer Vertreterin von Betroffenen. In unserem Projekt war besonders, dass die Forschungsprioritäten ganz von Betroffenen bestimmt wurden.

 

Wie gestaltete sich die Zusammenarbeit innerhalb des 30-köpfigen Gremiums aber auch zwischen wissenschaftlichen Forschenden und Citizen Scientists? Was hat dabei Ihrer Meinung nach gut funktioniert und wo gab es Stolpersteine?

Chantal Britt: Die Zusammenarbeit hat sehr gut funktioniert, wenn man sich die Situation vor Augen hält. Das 30-köpfige Gremium bestand aus chronisch kranken Menschen mit Long Covid und/oder myalgischer Enzephalomyelitis ME/CFS. Der Austausch war sehr wertschätzend und auf Augenhöhe. Die Meetings fanden alle online statt, die Mitglieder hatten sich also nie persönlich getroffen. Wir haben das Projekt durchgeführt, die Meetings waren respektvoll und wurden von den Betroffenen als positiv bewertet, und wir haben die Resultate publiziert. Es gibt bei Citizen Science aber viele Herausforderungen. Die Mehrsprachigkeit, der Jargon, die Limitationen durch die Erkrankung aber auch fehlende Kompetenzen und Skills, wenn es um wissenschaftliches Arbeiten und Prozesse geht. Die Citizen Scientists arbeiteten ohne Bezahlung, krank, in ihrer Freizeit, teilweise zuhause auf dem Bett liegend. Die Kommunikation ist eine Herausforderung und die Divergenzen, wenn es um Interessen, Motivation, Ziele, Erwartungen an das Projekt und das Team geht.

Milo Puhan: Ich kann dieser Beschreibung nur zustimmen. Chantal Britt, Sarah Ziegler, welche einen wesentlichen Teil des Projekts koordinierte, und ich haben uns grosse Mühe gegeben, dass wir die Betroffenen vom Umfang der Arbeit und Geschwindigkeit des Vorgehens nicht überforderten. Zudem wählten wir Formate für die online Diskussionen, wo sich alle Beteiligten einbringen konnten, so dass die Diskussionen und Bestimmung von Forschungsprioritäten nicht von wenigen dominiert wurden.

 

Die Beteiligung von Betroffenen in der medizinischen Forschung, auch Patient and Public Involvement (PPI) genannt, hat in der Schweiz an Bedeutung gewonnen. Was sind Ihre Sichtweisen auf diese Art von Forschung?

Chantal Britt: Als PPI-Expertin und Patientenvertreterin habe ich einen gewissen Bias. Ich bin überzeugt, dass der Einbezug von Betroffenen die Qualität der Forschung, der Versorgung, der Relevanz und der Wirkung verbessert. PPI hat auch das Potenzial, durch das Empowerment der Patient*innen, Angehörigen und der Öffentlichkeit Ungleichheiten im System zu reduzieren. Öffentlich finanzierte Forschung und Entscheide über Forschungsförderung sollten aus meiner Sicht prinzipiell immer unter Beteiligung der Betroffenen selbst durchgeführt werden.

Milo Puhan: Ich stimme Chantal hundertprozentig zu. Wir haben seit 2016 diesbezüglich mit dem Schweizer Multiple Sklerose Register ein Vorzeigeprojekt. Jenes Grossprojekt wurde von MS-Betroffenen gewünscht. Sie gestalten es zusammen mit uns Forschenden und der Schweizerischen MS Gesellschaft und arbeiten bei Publikationen und Outreach-Aktivitäten aktiv mit.

Weiterführende Informationen

Long Covid Citizen Science Board

Mehr zu Long Covid Citizen Science Board

Betroffene von Long Covid und dem Chronic Fatigue Syndrome identifizierten in diesem Projekt mit Unterstützung von Forschenden der UZH für sie relevante Forschungsfragen und erarbeiten eine Forschungsagenda für die Schweiz.

Schweizer Multiple Sklerose Register

Mehr zu Schweizer Multiple Sklerose Register

Bei diesem Projekt geht es um die Umsetzung und Analyse des ersten von MS-Betroffenen mitgestalteten Gesundheitsfragebogen der Schweiz.

Was waren die Ergebnisse des Projekts und was haben Sie gelernt?

Chantal Britt: Wir haben eine Methode entwickelt, mit der man die Bedürfnisse von Patient*innen systematisch erfassen kann. Ich habe viel gelernt über die Forschung, deren Prozesse und Herausforderungen, dass die Motivationen von Forschenden und Citizen Scientists sehr oft unterschiedlich sind, dass die Kommunikation enorm wichtig ist, aber auch, dass Citizen Science etwas bewegen kann.

Milo Puhan: Wir konnten ganz konkrete Forschungsprioritäten erarbeiten und diese in einer guten Zeitschrift (The Patient) publizieren. Wir haben sicherlich alle viel gelernt in der Entwicklung der Methode und über die Art einer konstruktiven Zusammenarbeit.

 

Was wurde mit den gewonnenen Erkenntnissen gemacht? Wie und an wen haben Sie die Resultate kommuniziert?

Chantal Britt: Wir haben die Studie publiziert und ich zitiere die Resultate, wenn immer ich gefragt werde, was denn die Prioritäten der Betroffenen selbst wären, wenn sie Fördergelder erhalten würden.

Milo Puhan: Ich versuche auch, diese Forschungsprioritäten einzubringen, wo immer möglich.

 

Finden Sie, dass die Wissenschaft und Politik die Interessen von Long Covid-Betroffenen und die ausgearbeiteten Forderungen aus dem Projekt genügend berücksichtigen?

Chantal Britt: Nein. Bedauerlicherweise wurden die Bedürfnisse der Betroffenen in den beiden bestehenden Nationalen Forschungsprogrammen (NFPs) zur akuten Erkrankung und gesellschaftlichen Fragen fast gar nicht berücksichtigt. Es bräuchte ein Forschungsprogramm für post-infektiöse Erkrankungen. Die Prioritäten dafür hätten wir mit dem Projekt bestimmt, aber es fehlt der politische und wissenschaftliche Wille, das Thema postinfektiöse Erkrankungen endlich anzugehen.

Milo Puhan: Leider haben wir bisher keine Hinweise, dass unseren Forschungsprioritäten gefolgt wurde. Allerdings wird der Artikel immer öfters zitiert und wir werden wohl erst in ein paar Jahren beurteilen können, welche Forschung durch unsere Forschungsprioritäten zumindest mit beeinflusst wurden.

 

Eine grosse Herausforderung bei Citizen Science-Projekten ist oftmals die Frage, wie es nach der finanzierten Projektdauer weitergeht. Wie haben Sie das gelöst? Geht das Projekt in irgendeiner Weise weiter?

Chantal Britt: Das Gremium besteht weiterhin. Es wurden einzelne Teilnehmende bereits für Forschungsprojekte kontaktiert und konsultiert. Es besteht also eine Perspektive für die Beteiligten. Aber wie oben beschrieben fehlen leider die Forschungsgelder, um weitere Projekte anzustossen. Unser Traum wären einige Projekte, die wirklich patient-led, patient-initiated sind. Dass also einige der Fragen, die wir bestimmt haben tatsächlich beantwortet werden in Projekten, die Betroffene und Forschende gemeinsam durchführen.

Milo Puhan: Ich finde es sehr erfreulich, dass die Betroffenen für die Mitarbeit in weiteren Projekten zur Verfügung stehen. So gaben sie zum Beispiel wichtige Inputs zu unserer aktuellen Therapiestudie zu Pycnogenol, welche wir bei uns am Institut für Epidemiologie, Biostatistik und Prävention durchführen. Es fehlen aber im Gegensatz zu Ländern wie den USA und England die Forschungsmittel, wie Chantal sagt.

 

Was nehmen Sie persönlich aus dem Projekt mit?

Chantal Britt: Viel Genugtuung, Befähigung und Mut für Neues. Durch das Projekt bin ich von einer Kommunikationsfachfrau über meine Erkrankung zur Patientenvertreterin und schliesslich über das Projekt auch zur Forscherin geworden. Meine Erkrankung hat mein Leben auf den Kopf gestellt, und das Projekt war ein Lichtblick, der mein berufliches Leben in ganz neue Bahnen geleitet hat – etwas was ich mir vorher nicht habe vorstellen können.

Milo Puhan: Ich habe zwar einige Erfahrung in der Zusammenarbeit mit Betroffenen in Forschungsprojekten, aber ich fand es sehr spannend, eine Methodik zur Bestimmung von Forschungsprioritäten aus Sicht der Betroffenen zu entwickeln und bin mehr denn je überzeugt, dass Betroffene in alle Phasen der Forschung mit einbezogen werden müssen.

 

Herzlichen Dank für das Gespräch.

 

Zu Chantal Britt: Nach über 20 Jahren Tätigkeit im Journalismus und der Wissenschaftskommunikation engagiert sich Chantal Britt seit März 2020 als Patientenvertreterin und ist seit September 2022 als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig am Kompetenzzentrum für partizipative Gesundheitsversorgung der Berner Fachhochschule.

Zu Milo Puhan: Prof. Milo Puhan studierte an der Universität Zürich Medizin und ist seit 2013 Professor und Direktor am Institut für Epidemiologie, Biostatistik und Prävention der Universität Zürich. Sein Hauptinteresse in der Forschung liegt auf der Prävention und dem Management von chronischen Krankheiten und der Entwicklung von Tools, welche eine präferenz-basierte Gesundheitsversorgung unterstützen. 

 

Redaktion: Ursina Roffler
Das Interview wurde schriftlich geführt.

 

1 Long COVID Citizen Scientists: Developing a Needs-Based Research Agenda by Persons Affected by Long COVID https://link.springer.com/article/10.1007/s40271-022-00579-7 

Weiterführende Informationen

Paper: Long COVID Citizen Scientists: Developing a Needs-Based Research Agenda by Persons Affected by Long COVID

Mehr zu Paper: Long COVID Citizen Scientists: Developing a Needs-Based Research Agenda by Persons Affected by Long COVID

Die wissenschaftliche Publikation des Projekts.

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